5 verblüffende Wahrheiten über KI

Aus Ethan Mollicks Buch Co-Intelligence.

Einleitung: Die drei schlaflosen Nächte, die uns allen bevorstehen

Ethan Mollick, Professor an der renommierten Wharton School, hatte seine schlaflose Nacht, als er einen einzigen Absatz in ChatGPT tippte.

Er forderte die KI auf, eine komplexe Verhandlungssimulation zu erstellen. Eine Aufgabe, für die sein Team an der Universität Monate und Tausende von Arbeitsstunden investiert hatte. Die KI lieferte in Sekunden ein Ergebnis, das 80% der Arbeit seines Teams replizierte. In diesem Moment wurde ihm klar, dass sich etwas grundlegend verändert hatte.

Dieses Gefühl der Verwirrung und des Staunens, eine Mischung aus Aufregung und Nervosität, beschreibt Mollick in seinem Buch „Co-Intelligence“ als die „drei schlaflosen Nächte“, die uns allen bevorstehen. Es ist die Erkenntnis, dass wir es nicht mit einer besseren Software zu tun haben, sondern mit etwas völlig Neuem: einer fremdartigen Intelligenz, die uns zu einer neuen Form der Partnerschaft zwingt. Mollick nennt dies „Co-Intelligenz“. Eine Zusammenarbeit zwischen menschlichem und maschinellem Verstand, die weder reines Werkzeug noch empfindungsfähiges Wesen ist.

Ich fasse hier die fünf überraschendsten und kontraintuitivsten Wahrheiten aus seinem Buch zusammen. Sie stellen unser bisheriges Verständnis von KI, Arbeit und Lernen auf den Kopf und bieten einen klaren Leitfaden für die Navigation in unserer neuen, von Co-Intelligenz geprägten Welt.

Erkenntnis 1: KI ist kein besserer Taschenrechner. Sie ist ein „ausserirdischer Praktikant“

Wenn wir KI wie eine Excel-Tabelle behandeln, sind wir bereits gescheitert.

Let that sink in!

Der grösste Fehler, den wir machen, ist, sie wie traditionelle Software zu betrachten. Herkömmliche Programme sind berechenbar. KI ist das Gegenteil: unberechenbar, inkonsistent und oft verblüffend. Mollick nennt dieses Phänomen die „Jagged Frontier“ (zackige Grenze). Eine unsichtbare Linie, die definiert, was eine KI kann und was nicht. Das Verblüffende: Diese Grenze verläuft völlig unlogisch. KI brilliert bei komplexen, menschenähnlichen Aufgaben wie dem Verfassen eines Sonetts, scheitert aber oft an Dingen, die für einen Computer trivial erscheinen sollten, wie einfaches Zählen.

Ein treffendes Beispiel stammt vom Forscher Nicholas Carlini: GPT-4 kann mühelos eine funktionierende Webseite für Tic-Tac-Toe programmieren. Fragt man dieselbe KI jedoch nach dem besten nächsten Zug in einem laufenden Spiel, gibt sie eine offensichtlich falsche Antwort.

Die Schlussfolgerung ist radikal: Wir müssen aufhören, KI wie ein Werkzeug zu behandeln, und anfangen, sie als eine Art fremde Intelligenz zu betrachten – unberechenbar, nicht ganz menschlich, aber mit einzigartigen und mächtigen Fähigkeiten ausgestattet.

In short, we have an AI that acts very much like a person, but in ways that aren’t quite human. Something that can seem sentient but isn’t (as far as we can tell). We have invented a kind of alien mind.

Erkenntnis 2: KI macht uns übermenschlich produktiv, aber auch anfälliger für Fehler

Studien zeigen, dass der Einsatz von KI in Berufen von Marketing bis Programmierung zu Produktivitätssteigerungen von 20-80% führen kann. Zum Vergleich: Die Dampfkraft, eine der fundamentalsten Technologien der Industriellen Revolution, steigerte die Produktivität um 18-22%.

Doch es gibt eine überraschende Kehrseite, ein Versagen der Co-Intelligenz, das Mollick als „falling asleep at the wheel“ (am Steuer einschlafen) beschreibt. In einer Studie der Boston Consulting Group (BCG) erhielten Berater realistische Aufgaben: kreative (neue Schuhideen entwickeln), analytische (Marktsegmente definieren) und schriftliche (Pressemitteilungen verfassen). Die Gruppe, die GPT-4 nutzte, war bei den meisten Aufgaben deutlich besser. Als sie jedoch mit einer kniffligen Aufgabe konfrontiert wurde, die bewusst ausserhalb der Fähigkeiten der KI lag, schnitten sie dramatisch schlechter ab. Die KI-Gruppe löste die Aufgabe nur in 60-70 % der Fälle richtig, während die Kontrollgruppe eine Erfolgsquote von 84 % erreichte.

Blindes Vertrauen in die KI führte dazu, dass sie ihre eigene Expertise vernachlässigten. Um das zu verhindern, müssen wir unsere Co-Intelligenz bewusst gestalten. Mollick unterscheidet zwei effektive Modi: „Zentauren“, die Aufgaben klar zwischen Mensch und KI aufteilen, und „Cyborgs“, die KI tief in ihren Arbeitsablauf integrieren und ständig mit ihr interagieren.

Erkenntnis 3: Kreativität ist eine der ersten Fähigkeiten, die KI meistert. Nicht eine der letzten

Die traditionelle Annahme war, dass Automatisierung zuerst repetitive und erst viel später kreative Aufgaben betreffen würde. Generative KI hat diese Reihenfolge umgedreht. Kreativität ist keine letzte Bastion menschlicher Überlegenheit, sondern eine der ersten Domänen, in denen KI brilliert.

Die Beweise sind erdrückend:

  • In psychologischen Standardtests für Kreativität, wie dem Alternative Uses Test (AUT), bei dem alternative Verwendungen für einen Alltagsgegenstand gefunden werden müssen, übertrifft KI die meisten Menschen.
  • In einem Innovationswettbewerb an der Wharton School sollten Studierende neue Produktideen entwickeln. Das Ergebnis war eindeutig: Von den 40 besten Ideen, die von einer Jury bewertet wurden, stammten 35 von ChatGPT.

Warum ist KI so kreativ? Mollick beschreibt sie als „Verbindungsmaschine“. Sie wurde mit einem riesigen Korpus menschlichen Wissens trainiert und kann ungleiche Konzepte auf völlig neue Weise rekombinieren. Diese Fähigkeit, entfernte Ideen zu verknüpfen, ist der Kern menschlicher Innovation. Und KI ist darin unermüdlich und unvoreingenommen.

AI was faster, obviously, generating a lot more ideas than the average person in any given time. But it was also better… of the 40 best ideas rated by the judges, 35 came from ChatGPT.

Erkenntnis 4: Die grössten Gewinner der KI-Revolution könnten die Geringqualifizierten sein

Hier stossen wir auf eine der folgenreichsten Erkenntnisse. Entgegen der Befürchtung, dass KI vor allem Geringqualifizierte ersetzen wird, deuten die Daten auf das Gegenteil hin: KI wirkt als „the great leveler“. Der grosse Gleichmacher.

In Studie um Studie zeigt sich dasselbe Muster: Personen mit anfänglich geringeren Fähigkeiten erzielen durch KI den grössten Leistungsschub.

  • Schlechte Autoren werden mit KI-Unterstützung zu soliden Autoren.
  • Bei der BCG-Studie schrumpfte die Leistungslücke zwischen den durchschnittlichen Leistungen der besten und der schlechtesten Mitarbeiter von 22 Prozent auf nur noch 4 Prozent.
  • In einem Callcenter steigerten geringqualifizierte Mitarbeiter ihre Produktivität um 35 %, während erfahrene Mitarbeiter kaum dazugewannen.

KI hebt die Leistungsuntergrenze an und macht durchschnittliche Performer gut. Dies stellt die traditionelle Vorstellung von Qualifikation und dem Wert von Erfahrung in Frage. Die Fähigkeit, effektiv mit KI zusammenzuarbeiten, könnte wichtiger werden als jahrelang angehäuftes Spezialwissen.

In study after study, the people who get the biggest boost from AI are those with the lowest initial ability—it turns poor performers into good performers.

Erkenntnis 5: Im Zeitalter der KI müssen wir mehr Fakten lernen, nicht weniger

Das vielleicht grösste Paradoxon der KI-Ära betrifft das Lernen. Die weit verbreitete Annahme ist, dass wir uns weniger merken müssen, weil wir Wissen jederzeit bei unserem „externen Gehirn“, der KI, abrufen können. Mollick argumentiert, dass genau das Gegenteil der Fall ist.

Um eine effektive Co-Intelligenz mit der KI zu bilden und ein guter „Mensch im Regelkreis“ zu sein, benötigen wir fundiertes Fachwissen. KI halluziniert, macht Fehler und kann subtil danebenliegen. Die kognitive Wissenschaft zeigt uns, warum Faktenwissen entscheidend ist: Unser „Arbeitsspeicher“ – der Teil des Gehirns, der aktiv Probleme löst – ist extrem begrenzt. Nur wenn wir unser „Langzeitgedächtnis“ mit einem soliden Fundament an Fakten und Konzepten bestückt haben, können wir die Ergebnisse der KI kritisch bewerten, ihre Fehler erkennen und sie sinnvoll anleiten.

In einer Welt, in der KI oberflächliche Antworten im Überfluss liefert, wird tiefes, menschliches Fachwissen nicht weniger, sondern exponentiell wertvoller. Die Notwendigkeit, Grundlagen zu lernen, nimmt nicht ab, sondern zu.

Schlussfolgerung: Unser neuer Co-Intelligent

Diese Erkenntnisse zeichnen ein klares Bild: KI ist weder ein reines Werkzeug, das wir beherrschen, noch ein allwissendes Orakel, dem wir folgen sollten. Sie ist etwas Neues: eine Form der „Co-Intelligenz“, ein Partner mit fremdartigen, aber mächtigen Fähigkeiten. Sie zu ignorieren, ist keine Option. Sie blind zu übernehmen, ist gefährlich. Der Weg nach vorn liegt in der bewussten und kritischen Zusammenarbeit.

Das bringt uns zu der entscheidenden Frage, die sich jeder von uns stellen muss: Wenn KI nicht nur ein Werkzeug ist, sondern ein unberechenbarer Partner, wie werden wir die Art und Weise, wie wir arbeiten und lernen, verändern, um ein effektiver Cyborg zu werden, anstatt am Steuer einzuschlafen?

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